Russlanddeutsche

Ein Volk auf der Wanderschaft von Otto Hertel

Leben der Deutschen in Russland

Kirche und Schule Eckpfeiler zur Erhaltung des Deutschtums

Das religiöse Leben war bei den Deutschen in Russland immer stark ausgeprägt - viele waren ja aus religiösen Gründen ausgewandert. Die Kirchen und Schulen (letztere bis 1917) mussten immer aus eigenen Mitteln erbaut und unterhalten werden. Da von der russischen Regierung bis 1914 Glaubensfreiheit gewährt wurde, war man in der Lage und auch bereit, für Kirche und Schule große Opfer zu bringen.

Die Teilnahme am Bau einer Kirche oder Schule war Ehrensache. So gab es denn in jeder mittleren und größeren Siedlung eine stattliche Kirche, bei den Wolga- und Schwarzmeerdeutschen wie auch in den großen Städten sogar mit einem Turm. Die Kirchen waren an den Sonntagen immer überfüllt.


Abb.: Eine für das Wolgagebiet typische Kirche, im Stil des russlanddeutschen Klassizismus erbaut. Man errichtet Langhaus -Kirchen mit klassizistischen Säulenvorhallen und historischen Türmen.


So ziemlich jedes Dorf hatte einen oder mehrere Chöre. Es fanden Sängerfeste benachbarter Gemeinden oder auch ganzer Siedlungsgebiete statt, an denen manchmal viele Hundert Sänger teilnahmen.

Ein besonderes Ereignis in den Gemeinden war auch stets das Tauffest. Die enge Verbundenheit zwischen Familie, Kirche und Schule trug zur Stärkung von Sitte und Moral, aber auch zu besserer Arbeitshaltung und zur wirtschaftlichen Entwicklung der Volksgruppe bei.

Die Geistlichen wurden in vielen Fällen in der Schweiz (Basel, Chrischona), in Deutschland und seit 1802, dem Jahr ihrer Gründung, an der Universität zu Dorpat (heute Tartu in Estland) ausgebildet. Es gab aber auch viele Laienprediger, die eine bestimmte geistliche Ausbildung auf verschiedenen Seminaren und Bibelschulen im Baltikum, in der Ukraine oder auch in Petersburg erhalten hatten. Auf die sorgfältige Ausbildung der Geistlichkeit und Verbreitung von Elementarkenntnissen im Volk wurde großer Wert gelegt.

Der Aufbau der deutschen Siedlungen in Russland war unter den neuen, unbekannten Verhältnissen schwierig und mühsam: Missernten, Raubüberfälle der moslemischen Nachbarn, Epidemien, Fehlen von Verkehrsmitteln und Warenangebot machten es erst nach längerer Zeit möglich, eine Existenz zu gründen sowie Kirchen, Schulen und andere Einrichtungen zu bauen und zu unterhalten.

Schulsystem

In den einzelnen Siedlungsgebieten gab es aus verschiedenen Gründen unterschiedliche wirtschaftliche Voraussetzungen für den Bau und die Unterhaltung von Schulen. Wenn in den Großstädten (Petersburg, Moskau, Odessa) wie auch im Transkaukasus und im Schwarzmeergebiet schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts bei den Deutschen ein mehr oder weniger geordnetes Schulsystem bestand, so war es um das Bildungswesen bei den Wolgadeutschen, wo die Ackerböden nicht so ergiebig waren und wo durch das dort bestehende Recht der Landverteilung der allgemeine Wohlstand sehr lange auf sich warten ließ, nicht so gut bestellt.


Abb.: Mädchenschule

 

m Jahre 1865 gab es in den Wolgakolonien 175 Kirchenschulen, in denen 22046 Knaben und 21223 Mädchen von 214 Lehrern unterrichtet wurden. Das waren 247 Kinder pro Schule oder 202 Schüler pro Lehrer. Aus diesen Gründen waren die Klassen überfüllt, und der Unterricht hatte keine große Wirkung. Lesekundig waren nur zirka 75 Prozent der Erwachsenen. Die russische ländliche Bevölkerung allerdings hatte selbst zu jener Zeit auch diesen Bildungsstand noch lange nicht erreicht.

In den Schwarzmeerkolonien und im Transkaukasus wurden in den Mennonitensiedlungen durch Spendensammlungen und Privatinitiative Schulen gegründet und betrieben, in denen die Fächer Deutsch, Russisch, Arithmetik, Rechtschreiben, Geographie, Naturkunde, Gesang, Malen unterrichtet Wurden. Bis 20 Prozent der Schüler aus armen Familien erhielten kostenlosen Unterricht. Es bestand schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts allgemeine Schulpflicht in den meisten deutschen Siedlungsgebieten.

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts stellte sich die Notwendigkeit heraus, Fortbildungsschulen zu gründen. Es mussten Lehrer für die Dorfschule (sechs Klassen) und Verwaltungsbeamte herangebildet werden. In den mennonitischen Siedlungen beispielsweise besuchte die Hälfte der Jungen die weiterführende Zentralschule. Nach deren Beendigung ging dann ein Teil von ihnen zur Universität ins Baltikum, ins Ausland oder auch an russische Hochschulen. Die meisten Absolventen dieser Hochschulen kehrten in ihre Siedlungen als Ärzte, Lehrer, Rechtsanwälte, Architekten, Ingenieure, Künstler oder Prediger zurück. In den drei- bis vierjährigen Zentralschulen wurden die Jungen und Mädchen getrennt unterrichtet. Die deutschen Schulen in Russland waren christliche Schulen, die nach den jeweiligen konfessionellen Satzungen ausgerichtet und seit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts durch hohe Leistungen gekennzeichnet waren. Es gab eine Reihe bedeutender Pädagogen und Verwaltungsbeamte, deren Einsatz das deutsche Schulwesen prägte.

Neben den Lehrerbildungsanstalten gab es Ackerbauschulen, Kommerzschulen, Progymnasien, Realgymnasien, Taubstummenschulen. Ein bedeutender Teil der deutschen Mädchen absolvierte Mädchengymnasien oder studierte gelegentlich auch schon vor der Revolution an Hochschulen.  

Gesundheitswesen

Der Gesundheitsdienst war in den deutschen Siedlungen auch weit besser als in den russischen, aber im Vergleich zu heute mangelhaft. In der Regel kam auf eine deutsche Siedlung von einigen Dörfern mit je 350 bis 400 Einwohner ein Arzt, der von der Gemeinde ein bestimmtes Jahresgehalt erhielt.

Pro Arzt gab es gewöhnlich auch einen Apotheker, der die benötigten Arzneimittel zu beschaffen hatte. Berühmt waren die deutschen Knochenärzte, und Heilpraktiker, die sich in ihrer ärztlichen Tätigkeit unter anderem auch auf die von S. Kneipp entwickelten Naturheilverfahren bezogen. Die wohl in jedem deutschen Dorf anzutreffenden Hebammen, wie auch die Heilpraktiker, hatten ihre Ausbildung zum Teil im Ausland, im Baltikum oder auch auf kurzfristigen Lehrgängen in den Siedlungsgebieten erhalten. In den größeren deutschen Ansiedlungen (Chortitza, Halbstadt) gab es vor der Revolution schon gut eingerichtete Hospitäler, in denen nicht nur Deutsche aufgenommen wurden.

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